das ungesagte

„Das Ungesagte“ In deutschen Wohnzimmern

„Das Ungesagte“
 In deutschen Wohnzimmern (PDF)

„Davon haben wir nicht gewusst!“, hieß es nach dem Untergang des NS-Regimes vor 80 Jahren.

Der 8. Mai 1945 wurde von den meisten Deutschen nicht als Befreiung empfunden.  Von den deutschen Verbrechen wollte kaum einer etwas gewusst haben. Eine Lebenslüge der Deutschen, die erst im Laufe von Jahrzehnten zunehmend zerstört wurde. Der Mord an jüdischen Frauen, Männern und Kindern? Die Morde an Behinderten? Der Vernichtungskrieg in der Sowjetunion? Die Zeugen von Hitler Vernichtungsdrohungen gegen die europäischen Juden, sie waren in ihren Augen Ahnungslose. Da außer Altnazis keiner mehr mit dem brauen Wahn zu tun haben wollte, versicherte man sich gegenseitig der Unwissenheit.

Diese kollektiven Lebenslügen wurden im Land der Täter wie Familiengeheimnisse behandelt. Wer etwas Verbotenes und Verschwiegenes ahnte oder wusste, scheute sich zu fragen und zu hinterfragen. Wer es dennoch tat, musste mit Schwierigkeiten rechnen. Das Mitwirken von Familienangehörigen am nationalsozialistischen Regime wurde beschwiegen. Die Techniken des Tabuisierens waren vielfältig: Verschweigen, verleugnen, verharmlosen etc.

Das Bedürfnis der Deutschen nach Verdrängung wurde allerdings immer wieder enervierend gestört. Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern, der Eichmannprozess in Jerusalem, die Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main, Fragen der eigenen Kinder seit den 60er Jahren und die US-amerikanische Serie „Holocaust“ trugen hierzu maßgeblich bei.

Vor diesem stark tabuisierten, sich auf die Dauer aber abschwächenden Hintergrund stößt der Film „Das Ungesagte“ auf ein besonderes Interesse. Er dokumentiert Gespräche mit den letzten noch lebenden „Zeitzeug*innen“ der NS-Zeit, wobei der Fokus hier auf Bystandern  und Beteiligten liegt. Die Äußerungen der Hochbetagten zeigen – trotz aller fortwirkender Verdrängungsmechanismen und Verzeichnungen – nachhaltige Spuren der Befindlichkeiten und Stimmungen im nationalsozialistischen Deutschland. Die Protagonisten, die die Zeit als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erlebt haben, bekunden fast ausnahmslos ihre damalige Zustimmung zum „Dritten Reich“ („Wir waren voller Begeisterung“). Sie illustrieren die autoritären und obrigkeitsstaatlichen Mechanismen in ihren Elternhäusern („Keine Widerworte“). Sie geben etwas wieder von ihrer damaligen ideologisch-emotionalen Verblendung. So erinnert sich eine damals junge Frau noch heute sichtlich bewegt an das Lied: „Nichts kann uns rauben: Liebe und Glauben“. Sie erinnern sich an Hitlers Reden und das Verhalten der Deutschen („Da waren die Straßen leergefegt. Da waren die Leute zu Hause“). Sie erinnern sich an Begegnungen mit Hitler im Rahmen eines Ausflugs zu dessen „Berghof“ („Und da wurde dann geknipst, wie er uns die Hand gedrückt hat. Und dann wurde immer wieder gesagt: ‚Die Hand, die darfst Du jetzt nicht waschen.‘“). Sie erinnern sich auch noch an den Rassismus und Chauvinismus, der ihnen vermittelt wurde („Wir waren bestimmt für die Herrschaft in Europa. Das hat uns imponiert.“) Einer der Befragten, der zum Teil jüdische Vorfahren hatte, erinnert sich an den wachsenden Antisemitismus („Und unsere friedlichen Schulwege, die wurden dann für mich zu einem Spießrutenlauf. Entweder spuckten sie alle vor mir aus, <…> oder sie hatten absichtlich vor mir eine Kette gebildet und ich musste warten.“) Einer der nichtjüdischen Befragten erinnert sich an die Austreibung der Juden aus seinem Heimatort („Da hat man so hinter den Vorhängen und hinter den Fenstern <gesehen>“). Darauf später angesprochen, betont er, „keine Erinnerung“ daran zu haben. An anderer Stelle wird betont: „Heute könnte ich sagen: ‚Die armen Juden.‘ Aber damals habe ich das nicht empfunden.“ Bisweilen zeigt sich, entgegen allen noch vorherrschenden Tendenzen zur Tabuisierung, eine Bereitschaft und Fähigkeit, sein zeitgenössisches Wissen von den NS-Verbrechen konkret einzuräumen. Einer erzählt von einem Cousin seines Vaters, der über die Ermordung der Juden berichtet hatte („Und der hat dann erzählt dann nach dem Angriff auf die Sowjetunion. Wie das zugeht. Wie die Juden sofort geholt werden, dann große Gruben graben müssen. Und hingestellt und erschossen werden.“) Doch am Ende dominierte bei den Protagonisten, in der NS-Zeit wie auch nach 1945, die Tendenz, über Peinliches und Peinigendes zu schweigen. Einer der Befragten reflektiert über Hintergründe dafür. „Auf jeden Fall war es fast die Regel meine ich…, dass Soldaten schweigsam waren, wenn sie heimkamen. Ich habe das erlebt an mir selbst. Hat mich auch niemand danach gefragt. Und habe nie das Bedürfnis gehabt zu erzählen. Offensichtlich niemand von meiner Umgebung, der was wissen wollte. Entweder haben die gemerkt, da ist irgendeine Mauer beim Vater, der will nicht, oder der kann nicht. Es bliebt also ungesagt. Es blieb begraben.

Jeder Tabuisierung sind allerdings Grenzen gesetzt. Dem Film „Das Ungesagte“ gelingt es in gewissermaßen archeologischer Weise, Verdecktes und Verdrängtes aus der NS-Zeit an die Oberfläche gelangen zu lassen. Die Befragten ringen sichtbar mit sich und ihrer Erinnerung. Wer genau zuhört, spürt in manchen Momenten, wie zuvor Bedecktes zu Tage tritt. Doch kann dies die jahrzehntelang Übung des Sich-Bedeckt-Haltens nur partiell durchbrechen. Immer wenn es konkret wird, immer wenn es schmerzhaft wird, siegt zumeist das Ungesagte. Doch genau das zeichnet den Film aus: Er leistet in höchst eindrucksvoller Weise, auch das Tabuisierte in dem Gesagten aufscheinen zu lassen. Als Komposition und Quelle ist er damit ein Werk von hohem Wert im Kampf gegen das Vergessen.

Bernward Dörner ist Historiker und außerplanmäßiger Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Er ist Autor des Buches: ‘Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte.‘