Die schreckliche Lücke
Die schreckliche Lücke
Gedanken zum Film „Das Ungesagte“ von Patricia Hector und Lothar Herzog (PDF)
Bilder von Fachwerkhäusern. Bilder von Sparkassen. Bilder von aufgeräumten Kleinstadtstraßen, Bilder von Mischwäldern aus der Vogelperspektive. Es sind diese unaufgeregten Aufnahmen in dem Film von Patricia Hector und Lothar Herzog, die sich in leichter Variation im Verlauf wiederholen, und die sukzessive eine neue Bedeutung annehmen, zunehmend uncanny werden. Die etwas erahnen lassen von der schrecklichen Lücke, die zwischen unserer kollektiven Erinnerungskultur und individuellen Familienerzählungen herrscht, die unser Nachdenken über die Zeit des Nationalsozialismus bis heute prägt. Soziologisch ist diese Lücke klar erfasst: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall haben in „Opa war kein Nazi“ eindrücklich auf die Differenzen hingewiesen zwischen dem in der Schule vermittelten Geschichtswissen und der Art wie in Deutschland innerhalb von Familien über die Zeit des NS gesprochen wird. In einem Nachtrag zur zweiten Auflage des Buchs verweisen Welzer und seine Kolleg*innen auf die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung: Nur 1% der Befragten hält es für möglich, dass ihre Vorfahren „an Verbrechen direkt beteiligt gewesen“ seien. „26%“ so heißt es dort weiter, „sind der Überzeugung, ihre Angehörigen hätten ,Verfolgten geholfen‘.“ Und zugleich „glauben 65% der Befragten, dass ihre Eltern oder Großeltern ,viel im Krieg erlitten hätten‘.“ Damit sind Thesen mit konkreten statistischen Zahlen unterfüttert, die zuvor schon Ulrike Jureit und Christian Schneider in „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ postuliert hatten: Das von einer breiten Mehrheit der Deutschen routinierte Begehen von Gedenk- und Erinnerungsritualen steht der weitgehenden Verweigerung gegenüber, konkret in den einschlägigen Archiven zu recherchieren oder auch nur bei den Großeltern nachzufragen – und so die eigene Familienhistorie in Bezug auf den NS aufzuarbeiten.
Was die eigenen Großeltern bzw. Urgroßeltern zwischen 1933 getan bzw. unterlassen haben, möchte man lieber nicht so genau wissen. Stattdessen gibt es eine bundesrepublikanische Sehnsucht, sich mit den Opfern des NS zu identifizieren, sich (bzw. die eigenen (Ur-) Großeltern) so von individueller Schuld und Verantwortung für die begangenen Verbrechen freizusprechen. Das ist so verständlich wie fatal.
Wir begegnen in „Das Ungesagte“ neun Männern und Frauen, die zwischen 1920 und 1936 geboren wurden und als Kinder und Jugendliche Zeugen der faschistischen Alltagskultur ab 1933 wurden. In ihren Aussagen wird nach und nach greifbar, wie dieses totalitäre Regime sie als junge Menschen geprägt und auch in Teilen in ihrer Humanität beschädigt hat. Als Adoleszente sind einige dieser Zeitzeug*innen Kriegsteilnehmer gewesen, Soldaten, BDM-Angehörige, Sanitätsschwestern im Frontdienst. Sie alle sind keineswegs unsympathisch, sondern ganz normale ältere Deutsche, die jetzt, achtzig Jahre nach Kriegsende, mal bereitwilliger, mal zögerlicher Auskunft geben über ihre Zeit im NS und über ihre jeweilige Rolle darin. Und auch erklären, warum sie nach dem Krieg so wenig über das eigene Mitfiebern beziehungsweise die eigene Mittäterschaft gesprochen haben. Wenn etwa einer der Protagonisten des Films über die Begeisterung spricht, mit der er als junger Mann an Wintersonnenwendfeiern teilgenommen hat, ist durchaus nachvollziehbar, wie von kollektivierenden Ritualen samt Naturmystik, Waldverbundenheit, Feuer und Chorgesang eine starke Anziehungskraft ausging. Diese Faszination scheint auf einer emotionellen Ebene bis in die Gegenwart ungebrochen: Im Film erzählt er davon mit leuchtenden Augen, zitiert Liedzeilen der dort gesungenen NS-Choräle („Hohe Nacht der klaren Sterne“), und berichtet von dem Widerschein des „haushohen“ Feuers, das er mit „tausend“ anderen „jungen Männern“ in einer Waldschlucht entzündet hat. Was keineswegs bedeutet, dass er den NS verherrlicht, wieder und wieder differenziert er durchaus, und spricht davon, dass „von heute aus betrachtet“ sein damaliges Mittun falsch war. Und reiht sich – dann eher von einer kognitiv-rationalen Ebene aus sprechend – ein in den gesellschaftlichen Konsens der Verurteilung des NS. Aber es bleibt ein Spalt zwischen den nostalgischen schwelgenden Jugenderinnerungen, und der eher formelhaften Ablehnung des Unrechtregimes. Das führt zu bezeichnenden Erinnerungslücken: Der gleiche, stets geordnet, klar und kontrolliert sprechende Interviewpartner kann sich in einer Sequenz des Films daran erinnern, wie er beim Blick aus dem Fenster Zeuge davon wird, wie Jüdinnen*Juden abgeführt werden. Später nochmals darauf angesprochen, scheint er diese Erinnerung wieder verdrängt zu haben. Oder sie ist zu schambehaftet, um sie nochmals zu bestätigen: „Nein, keine Erinnerung daran, ist mir entfallen, oder …“, erwidert er, um dann den angefangenen Satz so stehen zu lassen.
Auch die anderen Zeitzeugen haben überwiegend nur wenige, dürre Erinnerungen an Verbrechen gegen jüdische Mitmenschen. Es herrscht eine Art Konsens, dass man erst im Nachhinein davon erfahren habe. „Die waren dann halt weg.“ Was im Einzelnen, insbesondere für die damals noch jüngeren Kinder zutreffen mag, dass es wenig Wahrnehmung von dieser Gewalt gab, kann in der Summe kaum stimmen. Auch das legt der Film subtil frei: Durch den Gegenschnitt mit zwei jüdischen Zeitzeugen, die sich an alltägliche Schikane und handfeste Gewalt erinnern, von denen sie und ihre Familienangehörigen Opfer geworden sind. Durch diesen Kontrast wird deutlich, wie sehr auch frühere Frontsoldaten, Rotkreuzschwestern im Kriegsdienst und begeisterte BDM-Mitglieder in den achtzig Jahren seit Kriegsende keine echte Aufarbeitung, keine selbstkritische Befragung durchlaufen zu haben scheinen.
Über weite Strecken erwecken die Aussagen der Interviewten den Anschein, dass sie keine echte Reue, keine tiefe Scham empfinden, angesichts der Tatsache, dass sie Teil eines totalitären, menschenverachtenden Unrechtsregimes gewesen sind. Ihre Beteuerungen dazu bleiben abstrakt, distanziert, formalhaft-ritualisiert. Das kann als paradigmatisch für unsere Gesellschaft als ganze gelten. Damit untermauert der Film eine Umdeutung der BRD als „post-nationalsozialistische Gesellschaft“, wie sie in den letzten Jahren etwa in Essays von Max Czollek mehrfach angebracht wurde und auch in dem Hashtag #nazihintergrund (lanciert von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah) zum Ausdruck kam.
Auf behutsam-kritische Nachfragen der Filmemacher*innen zu ihrem eigenen jahrzehntelangen Schweigen antworten die Zeitzeugen meist ausweichend („es wollte nicht in Worte gefasst werden.“), wenig interessiert oder offen aggressiv: „Was wissen Sie denn vom Krieg?“ Bezeichnenderweise sehen sich die Zeitzeugen selbst eher als Opfer des NS. Was einerseits nicht ganz falsch ist – sie alle waren 1933 noch Kinder. Dass sie in Teilen auch Täter waren, wird von ihnen dabei aber ausgeblendet, oder wenn doch reflektiert, dann nur als abstrakte Formel, hinter der kaum ein Erschrecken, kaum Entsetzen über das eigene Mittun und Stützen dieses in der Historie einmaligen Terrorstaates aufscheint. Es ist der Verdienst dieses Films, diesen unbesprochenen, kollektiv beschwiegenen Spalt ans Licht zu setzen.
Zugleich leistet der Film aber noch etwas anderes: Er vermeidet gerade durch die vollständige Abwesenheit von Off-Kommentaren gleich drei Fallen im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Er verklärt eben keineswegs die Zeitzeugen (und Mittäter) als unschuldige Opfer. Noch zeichnet er die Mitläufer und Täter unter ihnen, wie so viele andere Filme und Bücher, mit wohligem Schauer als Teil einer einzigartig bösen Tötungsmaschinerie aus. Es ist vielmehr eine alltägliche, sehr menschliche „Banalität des Bösen“ (Hanna Ahrendt), die hier erahnbar wird. Der Film enthält sich zugleich aber auch einer eindeutigen Verurteilung der Mittäter, er stellt sich moralisch nicht über seine Interviewpartner*innen und überlässt das Urteil den Zuschauenden. Dabei ist zu jeder Zeit die Haltung der Filmemacher*innen zu den Aussagen der Zeitzeug*innen deutlich – durch Gegenschnitte, Zwischenbilder, die Aussagen der Opfer-Zeitzeugen. Das ist dem Film hoch anzurechnen – gerade durch die Abwesenheit eindeutiger Kommentare vermeidet er, sich in die ritualisierte Gedenkfolklore einzureihen, die Distanz schafft zu dem historischen Geschehen und den dafür Verantwortlichen. Seine Diagnose ist eine wesentlich radikalere: Wir sind als Gesellschaft noch immer nicht frei von den Altlasten der Vergangenheit – allem stolz nach außen gekehrten Gedenkpomp zum Trotz. Aus den Verbrechen unserer Großväter und Großmütter erwächst nicht nur eine kollektive Verantwortung, sondern auch die Dringlichkeit, konkret nachzufragen oder zu recherchieren, was unsere Vorfahren in der Zeit zwischen 1933 und 1945 getan haben. Und diese schreckliche Lücke zwischen abstrakten Geschichtswissen und familiärer Verstrickung in aller Klarheit auf uns wirken zu lassen. Bilder von Kleinstadtstraßen. Bilder von Fachwerkhäusern. Bilder von verwitterten Gedenktafeln am Rande eines Parkplatzes.
Paul Brodowsky ist Professor für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin, Autor und Kulturwissenschaftler. Er schreibt Prosa, Dramatik und Essays. 2023 veröffentlichte er den autofiktionalen Roman „Väter“, in dem er anhand einer Familiengeschichte Kontinuitäten des NS in der Gegenwart nachspürt.

