das ungesagte

Statement zum Film

Statement zum Film „Das Ungesagte“ von Lothar Herzog (PDF)

Für den deutsch-jüdischen Historiker Hans Rothfels war Zeitgeschichte die „Epoche der Mitlebenden“. Auch wenn am Ersten Weltkrieg als Epochenbeginn festgehalten wird, ist das Verschwinden der Zeitzeugen eine Tatsache, die beim Umgang mit der NS-Vergangenheit zu berücksichtigen ist. Mit dem Tod der Mitlebenden, die persönliche Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus hatten, geht ein Erfahrungsschatz verloren. Zugleich zeigt sich, dass die intergenerationelle Kommunikation über das Mitwirken in der NS-Diktatur überwiegend von Schweigen geprägt war.

Die Scheu vor offenen Fragen und Antworten war verständlich. Die große Mehrheit der Deutschen wurde weder vom NS-Regime „rassisch“ oder politisch verfolgt, noch stellte sie sich gegen die Diktatur. Dem Nationalsozialismus gelang es, die Mehrheitsgesellschaft zu durchdringen, zu korrumpieren und in seine verbrecherische Politik und Kriegführung einzuspannen. Die Forschung spricht zu Recht von einer Zustimmungs- und Beteiligungsdiktatur. So beteiligte sich etwa die Wehrmacht mit ihren Millionen Soldaten am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und verübte dabei zahllose Kriegsverbrechen. Die radikale Besatzungsherrschaft über halb Europa sowie die Judenverfolgung bis zum Völkermord waren bekannt und wurden in der Regel aktiv oder passiv mitgetragen. Sehr viele Deutsche profitierten materiell von ihnen. Darüber wollte nach dem Krieg fast niemand reden.

Hier setzt der eindrucksvolle Film von Patricia Hector und Lothar Herzog an, indem er einige der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über das bisher Ungesagte zum Sprechen bringt. Sie gehen dabei mit Sensibilität und Geduld vor. Der Film konzentriert sich vor allem auf die Geburtsjahrgänge der 1920er Jahre, die bis 1939 in die Hitlerjugend eintraten und im Krieg ins wehrfähige Alter kamen. Kontrastiert werden ihre Erfahrungsberichte mit den Erinnerungen von zwei Männern, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. So wichtig und erschütternd dieser Kontrast auch ist: Der Film besticht vor allem durch die Interviews von „gewöhnlichen“ Deutschen, die sich in ihrer Jugend in der Mitte der nationalsozialistischen Gesellschaft befanden. Im hohen Alter, in dem das Gedächtnis oft lang Verschüttetes freilegt, erinnern sie sich an ihre Begeisterung für die nationalsozialistische Gemeinschaft, an die eigenen Leiden im Krieg und an die Gleichgültigkeit gegenüber den „Anderen“, den aus der Gemeinschaft Ausgegrenzten. Manche Äußerungen sind von Empathielosigkeit und Abwehrstrategien geprägt, und oft lässt sich nur ahnen, welche tieferen Schichten sich unter dem Gesagten verbergen. Die Aussagekraft von Oral History hat ihre Grenzen, zumal in einem Dokumentarfilm, in dem die erzählte Zeit so lange zurückliegt und am Schneidetisch geordnet wird. Und dennoch: Das endlich Gesagte bestätigt die Wirkung und Nachwirkung einer Ideologie, die unter dem Label der „NS-Volksgemeinschaft“ Millionen Deutsche und gerade auch junge Menschen für ihre Diktatur und Politik begeistern konnte. Und Begeisterung ließ sich mit Intoleranz, Hass und Krieg verbinden. Mit dieser Erkenntnis regt der äußerst sehenswerte Film auch zum Nachdenken über unsere Gegenwart an.

Prof. Dr. Johannes Hürter, Institut für Zeitgeschichte München–Berlin