Das Ungesagte. Ein deutsches Familiengeheimnis
Das Ungesagte. Ein deutsches Familiengeheimnis
Film von Patricia Hector und Lothar Herzog
Zusammenfassung und Kommentierung: (PDF)
Prof. Dr. Angela Moré, Sozialpsychologin und Gruppen(lehr)analytikerin (D3G) Leibniz Universtität Hannover, Institut für Soziologie
Elf Personen wurden als Gesprächspartner:innen für diesen Film ausgewählt, davon zwei männliche Überlebende aus jüdischen Familien. Die Personen sind zwischen 1920 und 1936 geboren, waren also alle Kinder, als die NS-Diktatur begann bzw. der Älteste unter ihnen ein 13-jähriger Jugendlicher. Insofern kann man diese Menschen nicht für die Entstehung dieser Diktatur mit verantwortlich machen und selbst nicht für die Begeisterung (so die Überschrift des 1. Kapitels), welche die Mehrheit der nicht-jüdischen Deutschen zu jener Zeit empfand. Denn die Befragten stammten jeweils aus Familien, in welchen sich keine kritische Haltung gegenüber den Nazis, sei es aus religiösen, moralischen oder politischen Motiven, gebildet hatte.
Was dieses erste Kapitel des Films angeht, kommt der Film somit gewissermaßen zu spät. Dies ist freilich unvermeidlich, wenn noch heute lebende Zeitzeugen zu ihrer Begeisterung und ihrem Mitläufertum in den Jahren seit 1933 befragt werden sollen. Diese waren in die Propaganda und Aufbruchsstimmung jener Zeit jedoch hinein geboren und wurden
größtenteils in ihren Familien, in der Schule und ihrem sozialen Umfeld darin bestärkt. Eine kritische oder distanzierte Haltung gegenüber einer Umwelt zu entwickeln, die sehr
überwiegend von einer Stimmung des Aufbruchs und der Begeisterung geprägt war, konnte nur gelingen, wenn diese Kinder und Jugendlichen in einem Milieu aufwuchsen, das aus
religiösen, politischen oder moralischen Gründen von vornherein eine skeptische bis ablehnende Haltung einnahm. Allerdings verbargen viele Familien ihre Kritik auch vor den eigenen Kindern aus Sorge, diese könnten außerhalb der Familie sich verplappern. In manchen Familien drohten die von der Ideologie beeinflussten Kinder sogar damit, ihre Eltern zu denunzieren (oder taten dies sogar). Bei der Entwicklung von Einstellungen spielen somit die Einflüsse der Familie und des sozialen Umfelds eine entscheidende Rolle bzw. gruppendynamische Einflüsse auf Individuen und Kleingruppen. In diesem ersten, 35 Minuten dauernden Kapitel, werden verständlicherweise nur die nicht-jüdischen Zeitzeug:innen interviewt.
Der Übergang zum 2. Kapitel über den Hass wird bereits am Ende dieses ersten Kapitels eingeleitet, indem sich die Interviewten an die Entwertung anderer Völker, insbesondere der slawischen erinnern. Und daran, wie sehr dies mit der Selbstaufwertung des eigenen Volkes einher ging. Bei einigen der Befragten kommt ein Erstaunen darüber zum Ausdruck, diese völlig unzutreffenden Polarisierungen nicht angezweifelt, sondern damals geglaubt zu haben. Die narzisstische Aufwertung der eigenen Gruppe durch die Entwertung anderer Gruppen hat eine verführerische Bedeutung gerade in Kollektiven, deren Selbstwertgefühl beschädigt ist. In Deutschland war dies infolge der Niederlage im 1. Weltkrieg und die daraus sich ergebenden Demütigungen in hohem Maße der Fall. Darum hatten die ideologischen Aufwertungen durch Ideologeme wie Herrenmenschentum und Vormachtstellung eine große Wirkung, Faktoren, die auch in heutigen rechtspopulistischen Ideologien wieder manipulativ eingesetzt werden. Und die leichtgläubige Verführbarkeit war nicht nur das Problem wenig gebildeter Bevölkerungsgruppen. Vielmehr war sie getragen durch die massive Furcht der Mittelschicht vor einem sozioökonomischen Abstieg bis hin zur Verarmung, bedingt nicht zuletzt durch die Erfahrung der massiven Inflation und damit einher gehenden Arbeitslosigkeit nach dem weltweiten Börsenzusammenbruch Ende der 20er Jahre.
In den Interviews bleiben die Erinnerungen der Gesprächspartner:innen an diese fragwürdigen ideologischen Vorstellungen jedoch nicht allein auf der abstrakten, kognitiven Erinnerungsebene. Indem sie sich an jene Lieder, Aussprüche, Märsche und die gesamte Atmosphäre erinnern, über die jene Herrenmenschenphantasien verbreitet wurden, tauchen in ihnen auch emotionale Erinnerungen auf, bei denen spürbar wird, dass sie noch immer mit einem Gefühl von Stolz, Begeisterung und Freude verknüpft sind. Sie können sich diesen Empfindungen, die an diese alten Erinnerungen geknüpft sind und die zugleich ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen sind, nicht entziehen, wie die Stimme, die Mimik und die Blicke der Erzählenden verraten. Allerdings sind diese Gefühle nun auch verbunden mit einer gewissen Verlegenheit und Scham, diese empfunden zu haben bzw. noch immer zu empfinden.
Im 2. Kapitel Der Hass wird explizit die Verachtung und Dämonisierung der jüdischen Menschen zum Thema. Erinnerungen an verzerrende Karikaturen, die zunehmende Ausgrenzung, brennende Synagogen, aber auch an das Verschwinden der jüdischen Nachbarn, das Verhökern ihrer Besitztümer, die Enteignung jüdischer Fabrikbesitzer und Hauseigentümer werden hier von den einen mehr, den anderen weniger deutlich erinnert. 1938 ist der älteste der Befragten allerdings bereits 18 Jahre alt, aber auch er stellte sich, wie er nun feststellt, damals nicht die Frage, was da geschieht. Eher waren die brennenden Synagogen etwas, das bestaunt und als etwas Aufregendes angesehen wurde, das man sich anschaute. Einer der Befragten erinnert sich, dass sie sich, um das Unrecht nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, damals Ausreden zurecht gelegt hatten, die vertriebenen jüdischen Nachbarn hätten sicher eine neue Existenz in Amerika usw. Oder die Großmutter sagte ihrer Enkelin: „mach das Fenster zu, das geht uns nichts an“, womit in dieser wie in anderen Familien das Wahrnehmungstabu etabliert war. Dabei mag in manchen Familien damals auch Angst vor Repressionen eine Rolle gespielt haben. So erinnert sich einer der beiden jüdischen Überlebenden, dass ein kleiner Junge in der Straßenbahn laut von sich gab, was er beobachtet hatte: „das waren die SS-Männer mit den Stangen“ woraufhin ihm schnell der Mund zugehalten wurde. Die Behauptung, es sei der Volkszorn gewesen, durchschauten vermutlich viele der damaligen Zeitgenossen. Aber es gab keinen oder nur im verborgenen einen Widerspruch dagegen. Und viele profitierten anschließend von der Möglichkeit, jüdisches Eigentum billig zu ersteigern – wodurch sie sich bereits in die Mitschuld hinein begeben hatten und umso mehr zum Schweigen gebracht waren.
In diesem 2. Teil kommen erstmals auch die beiden Überlebenden aus jüdischen Familien zu Wort: beide hatten als Kinder erlebt, dass ihre Väter in Konzentrationslager verschleppt und dort schwer misshandelt worden waren. Während der Vater des einen Befragten nach Shanghai auswanderte, während die als „arisch“ geltende Mutter mit dem Sohn zurück blieb, aber in Depression versank, kann sich der zweite Befragte an seine Eltern nicht mehr erinnern. Denn er war erst viereinhalb Jahre, als er von den Eltern getrennt wurde und in die Krankenstation eines Kinderhauses kam, was ihn vor der Deportation und Ermordung rettete. Beide Eltern wurden in Auschwitz ermordet, das Familienvermögen beschlagnahmt und veräußert, wobei sich die wertvollen Gegenstände nicht auf der Versteigerungsliste finden. Die eigneten sich die höheren SS-Schergen selbst an.
Während auf Seiten der deutschen Zeitzeugen während ihres Erinnerns die Stimmung zwischen Ratlosigkeit, Leere und Abwehr schwankt, empfindet der inzwischen in Frankreich lebende jüngere der beiden Überlebenden eine tiefe Traurigkeit, aber kein Ressentiment. Der ältere der beiden Überlebenden hat präzisere Erinnerungen und spürt bis heute eine heftige Wut, wenn er daran denkt, wie der aus dem KZ entlassene Vater der Mutter sagte, wie furchtbar sie dort geschlagen wurden. Er erinnert sich aber auch an einen nicht-jüdischen Schulkameraden, der den Mut hatte, für ihn Essenmarken zu stehlen, einer jener wenigen, die sich nicht zwingen ließen, die freundschaftliche Verbindung aufrecht zu erhalten, wenn auch heimlich und unter großer Gefahr. Diese Beispiele machen deutlich, dass es nicht zwangsläufig zu einer Anpassung an die Mehrheitsmeinung bzw. -haltung kommen musste. Psychologisch gesehen ist das Ausagieren von Hass sehr verführerisch für Menschen, die verschiedenste Formen der Kränkung, Frustration und fehlender emotionaler Verständigung nicht in sich betrauernd verarbeiten und dadurch relativieren konnten (in der Sprache Melanie Kleins und Bions wäre dies der Übergang von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position), sondern die als negativ erlebten Selbstanteile auf Feindbilder projizieren müssen, um sie dann an diesen zu bekämpfen. Aus diesem Grund sind Feindbilder, seien sie antisemitisch, rassistisch, antifeministisch oder was immer, durchgängig irrational und in sich widersprüchlich. Hass ist eine archaisch-primitive Form der emotionalen Entlastung, die Ventilfunktion für die eigenen Aggressionen hat und zudem den subjektiven „Vorteil“ eines Gefühls der Selbst-Ermächtigung hat, welche das gestörte narzisstische Selbstempfinden qua Triumpf über den anderen, der als schwach, schlecht, minderwertig stigmatisiert wird, stabilisiert. Da die tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Selbst auf unbewusster Ebene jedoch erhalten bleibt, kommt der Hass nicht zur Ruhe und geht regelmäßig in mörderische Aggression über – deren Vorhandensein anschließend verleugnet wird, auch in der Aussage „davon haben wir nichts gewusst“. Letztlich beschreibt diese Aussage die bewusst nicht wahrgenommenen emotionalen Zustände.
Die (Notwendigkeit der) Abspaltung der eigenen emotionalen Befindlichkeiten wird insbesondere im 3. Kapitel (ab 1:13) Der Krieg deutlich. Die Zeitzeugen haben alle sehr intensive Erinnerungen an denselben. Diese Erinnerungen unterscheiden sich selbstverständlich auf Grund der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, auch bedingt durch Alter, Geschlecht, Region, familiäre Herkunft etc. Im Vordergrund stehen bei den erinnerten Ereignissen diejenigen, die von den Zeitzeugen als „schlimm“ erlebt wurden. Es handelt sich überwiegend um Ereignisse, die traumatisierend waren, aber auch solche, in welchen die vorgenommenen (befohlenen) Handlungen so sehr mit Schuld in Verbindung standen, dass die zugehörigen Gefühle bei einigen der Zeitzeugen komplett abgeblockt und ausgelöscht wurden. Nur einer der berichtenden Männer kann auch weinen angesichts seiner Erinnerungen – er ist vermutlich der Jüngste unter den Interviewten und hat den Krieg nicht als Soldat erlebt, sondern war an dessen Ende ein Zehnjähriger.
‘Diejenigen, die Soldaten waren, erinnern sich mit Schmerz an gefallene Kameraden, vor allem, wenn sie deren Tod aus unmittelbarer Nähe mitbekamen. Oder aber selbst nur durch Zufall am Leben blieben. Es handelt sich um zugleich traumatische Erfahrungen, deren Bilder eingebrannt bleiben und schwer erzählbar sind oder nur, indem die auftauchenden bedrohlichen Gefühle massiv abgewehrt werden. Andererseits verblüfft die Offenheit, über die die damals jungen Soldaten über das Töten von Feinden oder auch Dissidenten sprechen, fast, als wäre es auch eine Erleichterung, hierfür endlich einmal jemanden zu finden, der zuhört. Denn das Schweigen hatte seinen Grund auch im Nicht-Wissen-Wollen auf Seiten derjenigen, die das nicht miterlebt hatten und diese Erzählungen unerträglich fanden. Auch die Kinder hätten nicht danach gefragt, was damals geschah, bemerken sowohl die Männer wie auch die befragten Frauen. Jeder versuchte, seine Geschichten mit sich selbst auszumachen und sie nach dem Krieg zu vergessen, was bekanntlich nicht bzw. nur im Rahmen alltäglicher Geschäftigkeit und Ablenkung gelingt, nicht aber in den Träumen, inneren Bildern und Körperempfindungen. So spricht auch einer der ehemaligen Soldaten aus, er habe im Krieg das Weinen verlernt und könne dies bis heute nicht. Dabei hatte er im Kampf gegen den anonymen Feind, der weit genug weg war, keine Skrupel (und durfte sie in der Situation sicher auch nicht haben). Aber in einem Kampf Mann gegen Mann wird ihm deutlich, dass er da gerade einen jungen Menschen, wie er selbst damals einer war, getötet hat. Und habe mit Bedauern an dessen Angehörige gedacht.
Von der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung wussten die meisten angeblich nichts. Nur einer der Gesprächspartner erinnert sich, dass ihm sein Onkel von der systematischen Ermordung der Juden in „Russland“ erzählt habe (damals gehörten auch Weißrussland und die Ukraine zum sowjetischen Staatsgebiet). Ein anderer Zeitzeuge erinnert sich mit Empörung daran, dass von Generalmajor Wildermuth die Erschießung russischer Kriegsgefangener angeordnet worden war – „jeder einzeln, lauter junge Leute“. Seine Empörung schwingt auch mit bei der Feststellung, dass dieser Verantwortliche später im Kabinett Adenauer saß und nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Hier stellt er auch fest, gegen solche Befehle hätte man sich wehren können – um einige Zeit danach zu gestehen, dass er sich auch nicht wehrte bzw. dies unmöglich gewesen sei, als er den Befehl bekam, einen Deserteur zu erschießen. Einer der Gesprächspartner spricht die „Schizophrenie“ an, die sich in den Tätern entwickelt habe: sie seien einerseits feine Menschen gewesen und dann doch Mörder. Auf sich selbst diese Einsicht der Persönlichkeitsspaltung anzuwenden, die Robert J. Lifton (1998) als Dopplung des Selbst bezeichnete, gelingt dem Sprecher nicht oder nur im Ansatz. So erwähnt im letzten (5.) Kapitel über Das Erbe einer der einstigen Soldaten, das Erschießen eines anderen sei wohl aus heutiger Sicht Mord, aber damals sei es eben normal gewesen. Es scheint, die habitualisierte Spaltung und dadurch gelingende Abwehr bedrohlicher Gefühle müsse bis heute aufrecht erhalten werde, um nicht in Selbstzweifel und Verzweiflung über sich und die eigene Vergangenheit zu geraten.
Die drei Frauen erinnern in Bezug auf den Krieg v.a. die Bombennächte, Flucht in die Bunker, Vergewaltigungen, vor denen sie Angst hatten, aber damals nicht genau wussten, was da eigentlich passiert. Keine der drei Frauen hat dies offenbar selbst erleiden müssen, aber die Angst davor sitzt bis heute in ihnen. Erinnert wird von allen Befragten der schmerzliche Verlust von Angehörigen, Freunden und Nachbarn. Bei einer Zeitzeugin wird schmerzliche Trauer spürbar, als sie sich an die zweite Verhaftung des Vaters nach Ende des Krieges durch russische Soldaten erinnert. Da habe sie gewusst, dass sie ihn nie wieder sehen wird. Aber auch bis hält sie an der Überzeugung fest, ihr Vater habe nie einem anderen Menschen etwas zu Leide getan. Im Interview kann dieser Aussage nicht weiter auf den Grund gegangen werden. Es wäre Sache der Forschenden, hier weiter zu recherchieren – oder es bliebe den Enkeln und Urenkeln überlassen, dies eventuell zu tun.
Im 4. Kapitel des Films mit der Überschrift Das Schweigen begegnen die Zuschauer dem, was Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) als „die Unfähigkeit zu trauern“ bezeichnet haben. Der empfundene vollkommene Sinnverlust, der mit dem Verlust des Krieges, Deutschlands und aller bis dahin geteilter Ideale einher ging, kommt auf der Tagebuchseite vom 1. Mai 1945 eines der ehemaligen Soldaten zum Ausdruck. So haben damals gewiss sehr viele Deutsche empfunden und hatten, wie auch dieser Zeitzeuge, in der dieser ersten Phase des Kriegsendes die Vorstellung, sie müssten ihr Leben beenden. Nicht wenige taten dies, die genaue Zahl ließ sich nie ermitteln. Alle nicht-jüdischen Befragten teilen das (zweifelhafte) Narrativ, man habe erst jetzt nach und nach über die Konzentrationslager und die dort erfolgten systematischen Mordverbrechen erfahren (Longerich 2007). Zugleich berichtet eine der Frauen, selbst im KZ Bergen-Belsen sei noch geplündert worden, wurde karierte Bettwäsche entwendet und später daraus Kleidung gemacht. Es kann sich nur um die Bettwäsche der SS-Angehörigen gehandelt haben, denn die Gefangenen hatten keine Bettwäsche, sondern Typhus und Fleckfieber.
Daraus wird deutlich, dass die Bevölkerung sehr wohl über die Konzentrationslager Bescheid wusste. Was sich tatsächlich dadurch zeigt, ist die psychische Langzeitwirkung eines über Jahre eingeübten systematischen Wegsehens und Ignorierens dessen, was für eine große Zahl von Menschen täglich durch Tausende von Arbeitslagern, deren unterernährte und schlecht bekleidete Häftlinge von bewaffneten SS-Leuten zu ihren Arbeitsstätten und zurück getrieben wurden, sichtbar war. Zu dieser tief verinnerlichten Ignoranz, aus der sich das Narrativ des Nichtwissens speiste, kam nach dem Krieg die Scham über das zu Bewusstsein kommende Geschehen und die empfundene Schuld durch Duldung, Passivität und Nutznießung in der deutschen Bevölkerung hinzu. Dies war ein kollektiver Verleugnungsvorgang, der auch die nicht-jüdischen Zeitzeugen zum größten Teil erfasst hatte und sich in ihrem Erzählen noch immer wieder findet.
Aber auch die heimkehrenden Männer hätten aus dem Krieg nichts erzählt und wollten auch über eigene schlimme Taten nicht sprechen. Es sei aber auch nicht gefragt worden, sagen diese und auch die Kinder hätten nichts wissen wollen. Die wechselseitige Verstärkung der gegenseitig aufgebauten Mauern des Schweigens ist keiner der befragten Personen bewusst. Aber die körpersprachlichen Signale bleiben, die Alpträume, innere Unruhe, Gefühle von Zweifel und Scham – je weniger sie ins Bewusstsein kommen dürfen, desto mehr. Bei manchen auch Verzweiflung und Schmerz.
Auch die jüdischen Überlebenden haben wenig über diese Vergangenheit mit ihren Kindern gesprochen, eher aber, um diesen nicht die grausamen Geschichten zuzumuten. Bekanntlich nehmen jedoch gerade die Nachkommen der Überlebenden sehr viel von der Geschichte der Eltern und Großeltern auf indirekten Wegen in sich auf, dazu bedarf es der verbalen Sprache nicht. Das Sprechen über das gegenseitige sich Erleben könnte aber manche Erleichterung schaffen. Eventuell wird dieser Film gerade bei den Nachkommen der Interviewten dies anregen. Aber es bleiben auch massive Widerstände im Dialog präsent, wenn sich eine der Zeitzeuginnen darauf beruft, sie sei doch damals erst 12 Jahre alt gewesen und mit vorwurfsvollem Unterton die Interviewerin fragt „was hätten Sie denn getan, als sie 12 waren“. Ohne weiteren Kommentar zeigt der Film anschließend ein Foto von ihr als Krankenschwester (vermutlich in einem Kriegslazarett) – da ist sie bereits eine junge Erwachsene von mindestens 18 oder 20 Jahren.
Das 4. Kapitel geht inhaltlich in das 5. mit dem Titel Das Erbe über. Hier setzen sich die Kontinuitäten fort: die politischen – angesichts der Wildermuth-Kaserne in Stuttgart oder der Dr. Zimmer-Straße in Würzburg, benannt nach einem der NS-Rasseforscher, die erst Jahrzehnte später umbenannt wurde. Aber auch die Kontinuität der Scham- und Schuldabwehr stellt ein Kontinuum dar, allerdings nicht bei allen Zeitzeug:innen in gleichem Maße. Während ein ehemaliger Mitläufer und Soldat darauf beharrt, er brauche sich nicht zu schämen, die anderen hätten es ja auch nicht getan (wobei sein Blick zugleich Irritation, Scham und Zweifel verrät), gibt es auch reflektierte und nachdenkliche Stimmen unter den nicht-jüdischen Gesprächspartner:innen. Auch ein anderes Erbe kommt durch eine der Zeitzeuginnen zur Sprache: die Vererbung erfahrener Lieblosigkeit, die sich in den Erziehungsstilen der damaligen Zeit fanden, nicht erst seit 1933 und die Erziehungsbücher von Johanna Haarer (1934), die weniger mit Erziehung als mit der Domestizierung von Kindern zu tun hatten. Schon die Generationen davor wurde nach streng preußisch-protestantischer Art mit Härte und Demütigung statt Verständnis und Liebe ins Leben begleitet. Und so stellt eine der Befragten fest, dass auch sie ihren Sohn nie in den Arm genommen hat – was damals nicht üblich war – , weil sie es selbst nicht gekannt habe. Mit dem Eingeständnis dieser unwiederbringlich verpassten Chance einer liebevollen Nähe mit den Kindern geht ein tiefer Kummer einher, dessen Tränen sie nur mit Mühe unterdrücken kann. Gerade die Qualität von Bindungen zwischen Eltern und Kindern ist etwas, das in den Beziehungen von einer Generation zur nächsten oft hartnäckig weiter gegeben wird. Vielleicht aber hatten ihre Enkel:innen es in dieser Hinsicht schon besser als sie und ihr Sohn. Und vielleicht wird in diesem Sohn (und anderen Söhnen dieser Generation) eine Seite berührt werden, wenn er die Mutter darüber sprechen hört und ihren Schmerz über diese Versäumnis erkennt.
Ein Film mit elf Zeitzeug:innen kann nicht repräsentativ sein, umreißt aber ein Spektrum von Erfahrungen und Reaktionen, von Bewältigungsversuchen und Abwehr, von Trauer, Scham und Schuldempfindungen. Bei den neun einst begeisterten Mitläufer:innen, die als Kinder in dieses System hinein geboren und sozialisiert wurden und nicht auf die Idee kamen, dass sie etwas Falschem und Verbrecherischem anhängen, spielen auch Gruppenphänomene sowohl innerhalb der Familien und Nachbarschaften wie in der gesellschaftlichen Großgruppe eine wichtige Rolle, die diese Blindheit gegenüber der unmenschlichen Realität erklären helfen. Auf Seiten der beiden jüdischen Überlebenden begegnen wir hier, stellvertretend für viele Überlebende der jüdischen Gemeinschaft und anderer verfolgter Gruppen, tiefer Trauer und dem Nicht-Begreifenkönnen all des Schrecklichen, das damals geschah, aber auch von Schmerz und Wut. All dies ist trotz und angesichts des Verschwiegenen das emotionale Erbe der Nachkommen, das diesen jedoch zu Bewusstsein kommen muss, um aufgearbeitet und sinnvoll integriert werden zu können. Andernfalls bleiben diese emotionalen Spuren dunkle Schatten der Vergangenheit, die in die Gegenwart und Zukunft hinein wirksam bleiben.
In diesem Dokumentarfilm über Das Ungesagte waren jedoch alle beteiligten Gesprächspartner:innen dafür offen und bereit, über jene Dinge im Film zu berichten, über die sie zum größten Teil bis heute nie gesprochen haben.
Vermutlich wird das Erbe der Kriegsgeneration – hier repräsentiert durch diese elf noch lebenden Zeitzeug:innen – ein Stück besser erfassbar werden, wenn auf der Grundlage dieses Dokumentarfilms in den geplanten Workshops mit Nachkommen der Tätergeneration deren familiäres Erbe aufgearbeitet werden kann. Dem Film ist darum in den Kinos, Schulen und geplanten Workshops sowie in der Öffentlichkeit große Resonanz zu wünschen.
Zitierte Literatur
Haarer, Johanna (1934). Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München. Nach 1945 publiziert unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“
Lifton, Robert J. (1988). Ärzte im Dritten Reich. Aus dem Amerikan. Von A. Lösch, S. Fetscher u. M.K. Scheer.Stuttgart.
Longerich, Peter (2007). „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. München.
Mitscherlich, Alexander u. Margarete (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München u. Zürich.

